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Sprache schafft Wirklichkeit: Gastarbeit war gestern!

        Von: Andrea Possenig-Moser, ZeMiT – Mensch und Migration im Zentrum

Politisch und medial wird angesichts ausgelassener Feiern im vergangenen Monat anlässlich des Sieges von. R. T. Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen in der Türkei und der notwendigen Anwerbung von Arbeitskräften aus dem Ausland das längst überholte Prinzip des „Gastlandes“ und der „Gastarbeit“ bemüht. Ein Blick zurück zeigt, dass dieses Prinzip gesellschaftlich und menschlich hohe Kosten zu verantworten hat und als gescheitert bezeichnet werden kann. Dazugehörige Begriffe haben für aktuell gesellschaftliche Entwicklungen keinerlei Mehrwert und führen im Gegenteil nur dazu, dass Diskussionen, Stimmungen und schließlich die Realität falsch und negativ aufgeladen und geprägt werden.  

ACHTE AUF DEINE WORTWAHL: Bei einem Workshop zu Antirassismus brachten Jugendliche ihre Ideen für eine offene Gesellschaft ein. Ihre Anliegen sind auch Forderungen an  Politik- und Medienlandschaft.

Schon in den 1960er bis 1980er Jahren, als Österreich über Anwerbeabkommen mit der Türkei (1964) und Jugoslawien (1966) sogenannte „Gastarbeiter“ und „Gastarbeiterinnen“ für die Arbeit in Industrie, Baugewerbe und teilweise Pflege ins Land lockte, war der Begriff falsch und durch seine Wurzeln in der NS-Zeit deplatziert und abwertend. Dennoch zeigte er Wirkung: „Gäste“ bleiben nicht und genießen nicht dieselben Rechte wie „Gastgeber“. Der Verbleib der Arbeitsmigrant:innen befand sich über Jahre in einem unsicheren Schwebestatus, obwohl bereits nach kurzer Zeit klar war, dass das geplante Rotationsprinzip (jährlicher Wechsel der Arbeitskräfte in Rotation) zum Scheitern verurteilt war. Weder Betriebe noch Arbeitskräfte konnten oder wollten sich diesem Prinzip unterwerfen. Die Frage „Wie lange bleiben wir noch?“ blieb dennoch mit all ihren Konsequenzen in Bezug auf Lebensplanung, Zugehörigkeit und Teilhabe für viele Arbeitsmigrant:innen eine Lebensfrage, die in den letzten Jahren, da viele ihre Pension antreten, erneut an Bedeutung gewinnt.

Auch auf der „Gastgeberseite“, der Seite der staatlichen Institutionen und Betriebe, zeigte das Konzept seine Wirkung: Die Arbeitskraft der Gäste wurde ausgiebig für den Wirtschaftsaufschwung abgerufen, darüber hinaus gab es weder Angebote (an Sprachkursen, Entwicklungsmöglichkeiten) noch die formelle oder informelle Einladung, dass die „Gäste“ sich hier dauerhaft einrichten. So war die Familienzusammenführung erst in den späten 1970er Jahren eine Möglichkeit, Kinder aus den Herkunftsländern nach Österreich zu holen. Auch diese restriktive Regelung blieb nicht ohne negative Folgen: Die lange Trennung zwischen Eltern und Kindern war für beide Seiten eine emotionale Dauerbelastung. Der Versuch, sie mit großzügigen Geschenken im Winter- oder Sommerurlaub zu mildern, konnte nur scheitern. Für die Kinder war der Umzug nach Österreich  nicht selten ein Schock -  kulturell, sprachlich und ebenso häufig familiär. Sie erlebten hautnah, in welchem Ausmaß sich ihre Eltern in Doppelschichten abrackerten und konnten das „Europa“, das im Herkunftsland so schön mit Wohlstand, Aufbruch und Freiheit gezeichnet wurde, selten finden. Die Bildungseinrichtungen waren außerdem nicht auf Neu- und Quereinsteiger:innen mit wenigen oder gar keinen Deutschkenntnissen vorbereitet. Engagierte Einzelpersonen entschieden dadurch oft über Schulerfolg und Bildungsoptionen der „Zweiten Generation“ - das Schulsystem ist an seiner Aufgabe gescheitert und steht der gesellschaftlichen Vielfalt bis heute konzept- und ideenlos gegenüber. Nach wir vor wird Bildung in Österreich in erster Linie vererbt. In einer Pflichtschulzeit von neun Jahren ist es dem System Schule (trotz an Verausgabung heranreichenden Einsatz vieler Lehrpersonen!) in Österreich nach wie vor nicht möglich, unterschiedliche Startbedingungen auszugleichen und Jugendlichen zum Ende ihrer Schulzeit Wahlmöglichkeiten zu ermöglichen.

Die Idee der „Gastarbeit“ ist - kurz gesagt - ein Modell, das wirtschaftlich kurzfristig Sinn machen kann, die damit verbundenen gesellschaftlichen und individuellen Nachteile, Verluste und Kosten sind dem wirtschaftlichen Shot allerdings in einem Ausmaß überlegen, dass man das Konzept als gescheitert betrachten kann. Ein Scheitern, aus dem man freilich auch lernen könnte…

Nicht so in Österreich!
Medial (u. a. Profil vom 7. Juni 2023, Link: https://shop.profil.at/shop/187/profil-heft-232023) und politisch (BK Karl Nehammer am 2. Juni 2023, Link: https://www.derstandard.at/story/3000000172834/t252rkei-wahl-komplexit228tsforscher-fanden-anzeichen-f252r-manipulation) wird das „Gastprinzip“ wieder ausgegraben und ins Spiel gebracht: Anlässlich des historisch höchsten Fachkräftemangels in kritischen Bereichen wie Medizin, Pflege, Betreuung und zentralen Wirtschaftssektoren wie Tourismus, Bau und Industrie ein zumindest verwunderlicher, wenn nicht völlig katastrophaler Schachzug. Ein Schachzug, der sich schnell zum Eigentor entwickeln kann. Österreich befindet sich momentan im Konkurrenzkampf um Arbeitskräfte mit zahlreichen Ländern, die Migrant:innen eine offene Haltung, Anerkennung und tolle Bedingungen am Arbeitsmarkt bieten. Die gesellschaftliche Haltung und die dazugehörigen Begriffe sind wesentliche Elemente, die den Charakter und die Attraktivität eines Einwanderungslandes ausmachen. Sprache schafft tatsächlich Wirklichkeit und insofern sei es österreichischen Medien und der österreichischen Politik (allen voran dem Bundeskanzler der Republik) nachdrücklich ans Herz gelegt, ihre Wortwahl und Haltung zu korrigieren. Wenn nicht aus intellektuellen Gründen, dann zumindest aus knallhartem wirtschaftlichem Kalkül: Wenn wir nicht Bedingungen und Haltungen schaffen, damit sich Menschen aus dem Ausland hier willkommen fühlen und gerne in Österreich leben und arbeiten, werden viele in anderen Ländern gerne aufgenommen. „Gäste“ braucht nur mehr der Tourismus, Österreich braucht zur Wohlstands- und Systemerhaltung dringend dauerhafte Zuwanderung aus dem Ausland. Menschen, die kommen, um zu bleiben.

Um im Wettbewerb um (qualifizierte) Arbeitnehmer:innen aus dem Ausland nicht ins folgenschwere Hintertreffen zu geraten, wäre die Umsetzung folgender Maßnahmen notwendig: Erweiterung der Möglichkeiten legaler Zuwanderung, Zugang zum Arbeitsmarkt und zu Anerkennungsverfahren für Asylwerber:innen, unmittelbare Möglichkeiten der Familienzusammenführung, Fokussierung der Anerkennung von Ausbildungen aus dem Ausland, ausreichendes analoges und digitales Angebot an Deutschkursen, gute Bezahlung, faire und anerkennende Arbeitsbedingungen, Ermöglichung einer Work-Life-Balance, Vermittlung oder Zurverfügungstellung zeitgemäßer Unterkünfte durch Arbeitgeber, diskriminierungsfreier Zugang zu Institutionen, Vereinen und Initiativen und schließlich ausreichende, hochwertige, offene und diversitätsbewusste Betreuungs- und Bildungseinrichtungen.  Als verbindende Klammer wäre ein anerkennendes Committment zu Diversität auf Regierungsebene und in staatlichen Institutionen die entscheidende Basis all dieser Maßnahmen und die Voraussetzung für eine offene Gesellschaft. Damit Österreich nicht nur ein Einwanderungsland ist, sondern es auch bleiben kann.

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Andrea Possenig-Moser arbeitet im ZeMiT-Mensch und Migration im Zentrum (link: https://www.zemit.at/de/) , der Text erschien im Juni 2023 im IMZ-Newsletter. 

Der Verein ZeMiT berät seit 1986 in den Bereichen Migration, Teilhabe, Anerkennung und Diskriminierung: Kostenlos, vertraulich, unabhängig und mehrsprachig.Seit den 1990er Jahren macht ZeMiT nationale und internationale Projekte und setzt sich für Gleichberechtigung, Vielfalt und Emanzipation ein.

ZeMiT erhält Förderungen vom AMS (Tirol und Vorarlberg), vom Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft, vom Land Tirol und der Stadt Innsbruck.

 

 

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